Wie viele jüdische Veteranen des Ersten Weltkriegs glaubte Alfred Mayer nicht, dass Hitler und sein Regime sich lange würden halten können. Doch bald wich die Zuversicht der Sorge. Der Boykott gegen jüdische Geschäfte, Praxen und Kanzleien am 1. April 1933 bewog ihn zu einem wirtschaftlichen Neubeginn. 1935 zog er nach Berlin und machte sich mit dem Installationsgeschäft Alfred Mayer selbständig. In der Großstadt erhoffte er sich bessere Bedingungen für ein jüdisches Unternehmen als in Bochum. Für Elisabeths Bruder Georg ergriffen die Eltern die Chance, ihn auf ein internationales Jungeninternat in der Schweiz zu schicken, so dass Elisabeth mit ihrer Mutter allein in Bochum zurückblieb. Die Familie besuchte sich gegenseitig.
Emigration war vorerst aber kein Thema, auch wenn die Schlinge um den Hals der im NS verfolgten Juden sich peu à peu zuzog. So war es zum Beispiel ein Schock, als die Mayers bei der Buchung des alljährlichen Familienurlaubs auf Norderney erfuhren, dass Juden nun unerwünscht seien.
Elisabeth Mayer war eine gute Schülerin. Nach der jüdischen Volksschule besuchte sie das Freiherr-vom-Stein-Lyzeum, die „höhere“ Schule für Mädchen in Bochum. Sie schrieb gern, liebte deutsche Literatur und sogar Grammatik. Wie es scheint, verschaffte ihr das den Respekt ihrer Lehrerinnen und Lehrer bis weit in die NS-Zeit hinein. Zwar nahm sie deutlich wahr, was um sie herum vor sich ging, sah sich selbst zunächst aber nicht als Opfer antisemitischer Angriffe. Elisabeths Schulerfolg und dass sie relativ lange relativ unbehelligt blieb, mag dazu beigetragen haben, dass ihre Mutter die Emigration nicht entschlossen anging.
Der Novemberpogrom 1938 änderte alles. Er setzte der Hoffnung auch der Familie Mayer auf Rückkehr in ihr früheres, „normales“ Leben ein brutales Ende.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten überall in Deutschland die Synagogen, auch die prachtvolle Bochumer Synagoge an der Wilhelmstraße, zerstörten SA und andere Nazis jüdische Wohnungen und schikanierten deren Bewohner. Es war der Tag vor Elisabeths 14. Geburtstag. Die verpackten Geschenke hatte sie schon gesehen und freute sich aufs Auspacken am nächsten Tag. Dazu kam es nicht. Elisabeth und ihre Mutter wurden von dem Lärm splitternden Holzes und brechenden Glases geweckt. Doch es waren keine Einbrecher, wie sie zunächst dachten, sondern Nazis, die in der Eingangshalle wüteten. Ein Fass mit Benzin, das ihnen als Brandbeschleuniger beim Anstecken des Hauses dienen sollte, wurde bereits die Treppe heraufgerollt, als das im Haus wohnende nichtjüdische Hausmeister-Ehepaar sie stoppte und zum Abzug bewegte. Bei all dem Schrecken erfuhr Elisabeth auch ein schönes Zeichen der Solidarität. Am nächsten Tag stand Helga Schmidt, eine Mitschülerin, auf ihrer Türschwelle und fragte, wie es ihr gehe. Die Mädchen kannten sich, waren aber keine engen Freundinnen. Nach dem Krieg nahmen sie wieder Kontakt miteinander auf, der jahrzehntelang hielt.
Noch während des Pogroms setzte Elisabeths Großvater Leo Mayer seinem Leben mit einer Überdosis Schlaftabletten selbst ein Ende. Sein gespenstisch anmutendes Begräbnis fand schon um 5 Uhr am nächsten Morgen statt, noch vor Sonnenaufgang. Die städtischen Behörden hatten das so angeordnet.
In Berlin war auch das Installationsgeschäft von Alfred Mayer zerstört worden. Er selbst war gefangen genommen und ins Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg nahe Berlin verschleppt worden. Schwer gezeichnet von der KZ-Haft, kam er nach drei Monaten wieder frei, musste aber zusichern, Deutschland auf schnellstem Weg zu verlassen. Das gelang mit der Hilfe von Elisabeths Onkel Ernst Goldschmidt, dem Bruder ihrer Mutter, der Alfred Mayer ein Einreisevisum nach England verschaffte. Ernst Goldschmidt, ein bis dahin renommierter Orthopäde an der Charité in Berlin, war bereits 1933 nach England emigriert. Da seine Qualifikationen dort nicht anerkannt wurden, studierte er in Edinburgh noch einmal neu und eröffnete dann eine Praxis in London. Bei der Beschaffung des medizinischen Equipments hatte ihm Alfred Mayer von Deutschland aus noch helfen können.
Nach dem Trauma der Pogromnacht setzte Frau Mayer alle Hebel in Bewegung, um aus Deutschland herauszukommen. Sie ließ Elisabeth für einen Kindertransport registrieren, zog diese Option aber nicht. Stattdessen flog sie mit ihr zusammen im Juli 1939 von Köln aus – mit Zwischenstopp in Brüssel – nach London. Elisabeths Bruder Georg blieb in der Schweiz. Zwar musste er das Internat aus Kostengründen verlassen, durfte aber eine öffentliche Schule besuchen und fand Aufnahme in einer Pflegefamilie.
In England angekommen, war die Hilfe von „Onkel Ernst“, wie Elisabeth ihn nannte, weiterhin von unschätzbarem Wert. Sie konnte ihre durch die Nazis unterbrochene Schullaufbahn fortsetzen. Die Londoner Schule, in der sie angemeldet war, wurde Ende August 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, evakuiert und ins ländliche Kettering in Northamptonshire verlegt. Elisabeth kam bei einer Pflegefamilie unter; die englische Sprache erlernte sie schnell.
1943 begann sie ein Studium der Germanistik am University College London (UCL), 1946 schloss sie es mit dem Bachelor of Arts (BA) ab. Während des Studiums lernte sie den Theologiestudenten und angehenden Rabbiner Jakob Petuchowski (1925-1991) kennen. Das Paar heiratete im November 1946 und ging 1948 gemeinsam in die USA, wo Jakob nach Abschluss seiner Studien zum Rabbiner ordiniert und als Forschungsprofessor an das Hebrew Union College (HUC) in Cincinnati/Ohio berufen wurde.
Elizabeth Petuchowski (nun mit „z“ im Vornamen) wurde Mutter dreier Söhne. Sie betätigte sich ehrenamtlich, genoss die Kulturangebote in ihrer neuen Heimatstadt und schloss Bekanntschaften. Dabei war die Wirkungsstätte ihres Ehemannes über Jahre hinweg nicht nur das Zentrum seiner wissenschaftlich-pädagogischen Laufbahn, sondern auch Lebensmittelpunkt der Familie.
Erst als ihre Kinder ihrer Fürsorge nicht mehr ständig bedurften, widmete sie sich wieder ihrer eigenen Karriere. Sie belegte Seminare am German Department der University of Cincinnati, an dem sie 1971 ihren Masterabschluss machte und 1975 zum Dr. phil. promoviert wurde. Ebendort übernahm sie eine Lehrtätigkeit als Germanistin. Parallel dazu forschte und publizierte sie.
Heute gilt die frühere Bochumerin Elizabeth Petuchowski als Expertin für deutsch-jüdische Literatur. Ihre wissenschaftlich fundierten Arbeiten auf der einen Seite, ihre mit leichter Hand geschriebenen Abhandlungen über jüdischen Humor, ihre Rezensionen und Artikel für diverse Feuilletons belegen ihre Vielseitigkeit und offenbaren ihre schon während des Studiums in London entwickelte Leidenschaft für den Journalismus.
1991 starb ihr Ehemann Jakob Petuchowski. Sie zog von Cincinnati nach Columbus/Ohio, in die Nähe eines ihrer Söhne, wo sie heute noch lebt. Am 10. November 2024 wurde Elizabeth Petuchowski 100 Jahre alt. Dazu gratulieren wir als Initiative Nordbahnhof Bochum e.V. sehr herzlich!
Ingrid Wölk, im November 2024